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Kanzlerin warnt vor Jobverluste durch Mindestlohn – 160.000 Mitarbeiter im Gastgewerbe müssen mit Hartz IV aufstocken – Schlechte Bezahlung ist im Gastgewerbe sehr weit verbreitet

(Berlin, 18. Oktober 2013) Die Lage ist prekär: Fast 160.000 Arbeitnehmer im Gastgewerbe, darunter etwa 70.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, müssen ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken. Dies geht aus einer aktuellen Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung hervor. In den Berliner Koalitionsverhandlungen hat daher die Forderung der SPD nach einem flächendeckenden, branchenübergreifenden Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde besondere Bedeutung. Kanzlerin Angela Merkel warnt davor – sie befürchtet Jobverluste. Gerade Frauen könnte ein Mindestlohn den Job kosten.

Arme Servicegäste - Mitarbeiter im Gastgewerbe müssen ihren Lohn mit ALG II aufstocken

Lohndurchschnitt im Gastgewerbe (Quelle: Focus)
Hotel: Durchschnitt: 9,84 Euro; Frauen: 9,13 Euro
Gastronomie: Durchschnitt: 9,02 Euro, Frauen: 8,48 Euro

Arbeitsbedingungen im Gastgewerbe: Nur für die Gäste angenehm
Das Gastgewerbe ist für Beschäftigte oft eine ungastliche Branche: Extrem viele Arbeitnehmer in Hotels und Gastronomie müssen mit Niedriglöhnen und Minijobs über die Runden kommen. Wer ein Restaurant besucht oder in einem Hotel übernachtet, erhofft sich Komfort und Entspannung. Wer dort arbeitet, den erwartet das Gegenteil: Stressige Arbeitsbedingungen und prekäre Beschäftigung sind im Gastgewerbe so weit verbreitet wie in kaum einer anderen Branche. Fast jeder Zweite ist Minijobber, zwei Drittel erhalten einen Niedriglohn. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die Klaus Maack, Jakob Haves, Birte Homann und Katrin Schmid für die Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt haben. Die Sozialwissenschaftler von der Unternehmensberatung Wilke, Maack und Partner haben dafür Daten ausgewertet und Interviews mit Vertretern von Verbänden, Unternehmen und Betriebsräten geführt.

Ihrer Analyse zufolge ist der Gesamtumsatz des Gastgewerbes in den letzten zehn Jahren gesunken – vor allem wegen erheblicher Einbußen in der traditionellen Gastronomie, also bei kleineren Restaurants, Cafés und Kneipen. Trotzdem hat die Zahl der Erwerbstätigen seit 2003 leicht zugenommen, von 1,92 auf 1,96 Millionen im Jahr 2012. Davon waren elf Prozent tätige Inhaber und Selbstständige und drei Prozent mithelfende Familienangehörige. Geboomt hat vor allem die atypische Beschäftigung: Die Zahl der Minijobs ist seit 2007 um rund 22 Prozent gestiegen. Mittlerweile sind 878.000 oder 49 Prozent der Beschäftigten im Gastgewerbe Minijobber. Unter den Frauen, die 62 Prozent der Beschäftigten stellen, gibt es mehr Minijobberinnen als regulär Beschäftigte. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze ist laut der Studie im gleichen Zeitraum nur um gut 14 Prozent gewachsen. 70 Prozent davon waren zudem Teilzeitstellen. Damit ist die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten seit 2007 um fast ein Drittel gewachsen, die der Vollzeitbeschäftigten nur um vier Prozent.

Schlechte Bezahlung ist im Gastgewerbe sehr weit verbreitet: Von den Beschäftigten in der Gastronomie verdienten 2010 mehr als drei Viertel ein Gehalt unter der Niedriglohnschwelle von 9,15 Euro pro Stunde. Im Bereich Beherbergung waren es knapp 65, im Catering 62 Prozent. Selbst ein Normalarbeitsverhältnis biete keinen Schutz, schreiben die Autoren: Etwa 30 Prozent der Vollzeitbeschäftigten müssen mit Niedriglöhnen auskommen. In der Systemgastronomie dürften es nach Schätzungen sogar rund 80 Prozent sein.

Die Folge des niedrigen Lohnniveaus: Fast 160.000 Arbeitnehmer, darunter etwa 70.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, müssen ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken. Damit sei das Gastgewerbe die Branche mit der zweithöchsten Aufstocker-Quote nach dem Reinigungsgewerbe, konstatieren die Experten. Für den Staat bedeutete das allein im Jahr 2011 Kosten von fast 1,5 Milliarden Euro. Ein wichtiger Grund für das niedrige Lohnniveau ist der Analyse zufolge der geringe Schutz durch Tarifverträge: Der niedrige gewerkschaftliche Organisationsgrad, der Austritt vieler Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband und die kleinbetriebliche Struktur der Branche hätten zur Erosion der tarifpolitischen Situation beigetragen. In der Gastronomie und in der Beherbergung arbeiten demnach weniger als 38 Prozent der Beschäftigten bei tarifgebundenen Arbeitgebern, im Catering nicht einmal 27 Prozent. Die untersten Tariflöhne liegen zum Teil unter 7,50 Euro, in Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise bei 6,19 Euro.

Um trotz der schlechten Löhne ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, arbeiten viele Angestellte weit über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus: Ein Viertel der Vollzeitbeschäftigten leiste regelmäßig mehr als zehn Überstunden pro Woche, schreiben Maack, Haves, Homann und Schmid. Dazu kommen erhebliche körperliche Belastungen und Stress: Stundenlanges Stehen, Heben und Tragen, Lärmbelastung, fehlende Pausen und Schichtdienst gehören zum Arbeitsalltag im Gastgewerbe. Laut einer Umfrage des DGB stehen 70 Prozent der Beschäftigten unter Zeitdruck und fühlen sich häufig gehetzt – der Spitzenwert im Branchenvergleich.

Schon jetzt drohe akuter Nachwuchsmangel, auch weil viele Betriebe ihre Auszubildenden als billige Arbeitskräfte ausnutzten, stellen die Sozialwissenschaftler fest. Von Überstunden ohne finanziellen oder zeitlichen Ausgleich seien entgegen den gesetzlichen Bestimmungen mehr als die Hälfte der Azubis betroffen. Die Konsequenz: Im Jahr 2012 waren fünf Berufe des Gastgewerbes unter den Top Ten mit den meisten unbesetzten Ausbildungsplätzen. Dazu kommt die deutschlandweit höchste Abbruchquote: Fast 50 Prozent der angehenden Köche beenden ihre Ausbildung vorzeitig.

Dehoga: „Wer nicht anständig bezahlt, erhält auch keine guten Mitarbeiter“
„Wie kaum eine andere Branche schaffen Hotellerie und Gastronomie zusätzliche Jobs“, weist der Dehoga-Bundesverband hin. Im September 2012 gab es über 918.900 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze – so viele wie noch nie. 2004 wurden 170.000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in der Branche geschaffen. Dies ist ein Zuwachs von 22,7 Prozent, während die Gesamtwirtschaft “nur” im gleichen Zeitraum auf 10,3 Prozent kommt. Der Jobmotor Gastgewerbe würde durch die Einführung eines Mindestlohns gefährlich ins Stottern geraten.

Dehoga: “Der Jobmotor Gastgewerbe würde durch die Einführung eines Mindestlohns gefährlich ins Stottern geraten”

„Keine Frage: Schattenwirtschaft, illegale Beschäftigung und Lohndumping müssen konsequent bekämpft werden. Aber: Lohnfindung ist Sache der Tarifvertragsparteien. Das Gastgewerbe verfügt über ein funktionierendes und flächendeckendes Tarifvertragssystem, das an die Besonderheiten der Branche und der Wirtschaftskraft der Regionen angepasst ist. Eine Küchenhilfe in Mecklenburg-Vorpommern kann und muss sicher anders bezahlt werden als in München“, so die Stellungnahme des Branchenspitzenverbandes.

Weiter im Dehoga-Papier heißt es: „Tarifverträge bilden Mindestarbeitsbedingungen ab. Sie müssen Raum lassen für übertarifliche Bezahlung bei angespanntem Arbeitsmarkt oder für besonders leistungsbereite Arbeitnehmer. Ihre Höhe muss aber auch so bemessen sein, dass sie in strukturschwachen Regionen und für Beschäftigte mit geringer Produktivität realistisch sind.“ Der einzig richtige Weg zur Gestaltung angemessener und verlässlicher Lohnbedingungen bestehe in der Stabilisierung des Systems der regionalen Tarifverträge. Diese zukunftsfest zu gestalten, ist gemeinsame Aufgabe der Tarifvertragspartner.

„Gesetzliche Mindestlöhne gefährden Arbeitsplätze. Nur über eine einfache und so auch niedriger entlohnte Tätigkeit gelingt Geringqualifizierten, Langzeitarbeitslosen und jungen Menschen der Einstieg in Beschäftigung“, heißt es vom Dehoga. Ein Mindestlohn trage nicht Marktgegebenheiten Rechnung, sondern folge politischen Zwängen. „Bereits jetzt erleben wir einen Überbietungskampf einzelner Parteien bei der Höhe des angemessenen Mindestlohns. Dieser zeigt, wie unverantwortlich es wäre, die Politik mit der Lohnfindung zu beauftragen. Es kann nicht sein, dass Politiker, die Wahlen gewinnen wollen, Löhne festlegen. Das ist Sache der Unternehmer. Denn diese tragen die unternehmerische Verantwortung, sie haften mit ihrem Vermögen. Und nicht die Politiker“, so der Dehoga.

Weiter heißt es: „Dass es in allen Bundesländern Tarifverträge für Arbeitnehmer im Gastgewerbe gibt, ist das Ergebnis einer verantwortlichen Tarifpolitik, die auch in den letzten Jahren wieder Lohnsteigerungen in mehreren Bundesländern möglich gemacht hat! Denn die Gastronomen und Hoteliers wissen auch: Wer nicht anständig bezahlt, erhält auch keine guten Mitarbeiter.“

Gesetzliche Mindestlöhne, die aber über der Produktivität Geringqualifizierter liegen, seien darüber hinaus unsozial. Sie verdrängten manche Hilfskräfte dauerhaft aus der legalen Arbeit. Und auch die Festlegung einer politisch-staatlichen Lohnuntergrenze durch eine Kommission, in der neben einem Schlichter auch einzelne Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter berufen werden, habe mit grundgesetzlich geschützter Tarifautonomie und mit einem durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ausgehandelten Tarif nichts zu tun.